Dauer online: Warum wir Ablenkung brauchen und gleichzeitig darunter leiden
Ich habe in den letzten Monaten viel gelöscht. WhatsApp. Instagram. Facebook und LinkedIn schon lange davor. Mein Handy hatte noch nie Laut- oder Klingelmodus, und es poppte nie eine Nachricht auf meinem Bildschirm auf. Ich habe meine E-Mails bis aufs Minimum reduziert und komplett bereinigt. Heute empfange ich nur noch das, was ich wirklich lesen möchte.
Man könnte sagen: Ich wollte Ruhe. Raum. Dieses tiefe Bedürfnis in mir, einfach nur in Frieden gelassen zu werden, kenne ich sehr gut. Doch was ich bekam, war zunächst alles andere als Ruhe. Denn kaum waren die Apps weg, griff meine Hand automatisch zu YouTube auf meinem Laptop – ein Ersatz, ein leises Umleiten, fast unmerklich am Anfang. Und ja, YouTube ist sanfter fürs Nervensystem als das endlose Scrollen auf Instagram. Aber es blieb eine Ablenkung. Eine Strategie. Ein Türspalt, den ich offenließ, damit ich nicht ganz in der Stille stehen musste.
Und hier möchte ich etwas Wichtiges klarstellen:
Ich halte keine dieser Apps für „schlecht“. Sie sind weder toxisch noch grundsätzlich problematisch. Social Media ist nicht der Feind. Im Gegenteil: Sie können verbinden, inspirieren, informieren und uns sogar regulieren, wenn wir sie bewusst nutzen. Das Problem war nie die App selbst. Das Problem ist, warum wir sie nutzen. Aus welchem Zustand heraus. Und ob wir uns überhaupt spüren, während wir durch sie navigieren.
Irgendwann wurde mir klar: Es ging nie nur um die Apps. Es ging darum, was ich ohne sie fühlen würde.
Dauerverfügbarkeit ist kein Lifestyle. Sie ist eine Überlebensstrategie. Viele glauben, sie seien einfach „zu viel am Handy“, „zu abgelenkt“ oder „nicht diszipliniert genug“. Aber das ist nicht die Wahrheit, die ich in mir gefunden habe. Wenn ich dauernd erreichbar war, ständig im Kontakt, im Senden und Empfangen, dann war das kein Fehler in mir. Es war mein Nervensystem, das Sicherheit suchte.
Kontakt war früher – als Kind und auch evolutionär – gleichbedeutend mit Überleben. Alleinsein konnte Gefahr bedeuten. Und wenn du Entwicklungstrauma erlebt hast, speichert dein Körper genau das ab:
Alleinsein = Gefahr.
Kontakt = sicher bleiben.
Wenn du emotional vernachlässigt wurdest, dann operiert dein System noch immer aus dieser Wunde. Es ist eine alte Weisheit des Körpers, keine Schwäche und kein persönliches Versagen. Es bedeutet nur, dass die Wunde immer noch aktiv ist.
Ich habe lange geglaubt, dass Ablenkung schlecht sei. Dass ich mich nur „besser disziplinieren“ müsste. Aber so funktioniert Heilung nicht. Ablenkung ist manchmal das Beste, was wir tun können, weil unser System noch nicht bereit ist, das zu fühlen, was darunter liegt. Sie schützt uns davor, zu früh an Orte zu gehen, die zu schmerzhaft sind. Gleichzeitig verhindert sie, dass wir je berühren, was eigentlich geheilt werden möchte. Nicht, weil wir falsch handeln, sondern weil unser Körper alles tut, um uns sicherzuhalten.
Und dann ist da dieses eine Gefühl, das viele von uns meiden: die Leere. Leere ist nicht wirklich leer. Sie ist ein Raum, gefüllt mit allem, was wir lange nicht fühlen konnten: Einsamkeit. Unverarbeiteter Schmerz. Überforderung. Die alten Geschichten in unseren Zellen, die leise anklopfen und fragen: „Siehst du mich jetzt?“
Die meisten Menschen haben nicht Angst vor der Stille selbst, sondern sie haben Angst vor dem, was die Stille sichtbar macht. Wenn plötzlich Raum da ist, wenn niemand antwortet, keine Nachrichten mehr aufploppen, wenn der Körper nicht mehr überladen ist, dann taucht die innere Landschaft auf, die wir so lange übertönt haben.
Und genau hier ist wichtig zu verstehen:
Die Lösung ist nicht das Löschen. Das Löschen kann ein Tor öffnen, aber es ist nicht der Weg selbst. Das Tor heißt Stille und der Weg heißt Heilung.
Apps zu löschen, kann helfen, weil es uns vorübergehend aus dem Autopiloten holt. Weil plötzlich kein Stimulus da ist, der uns vor der inneren Enge schützt. Aber das eigentliche Geschenk entsteht erst danach: wenn wir bereit sind, in der Stille zu bleiben. Wenn wir beginnen, das zu fühlen, was wir so lange vermieden haben. Wenn wir uns unseren alten Wunden zuwenden – sanft, langsam, körperlich, niemals überfordernd.
Eine kleine Einladung an dich: Wenn du meinen Newsletter liest, meine Texte und meine Gedanken, spür sanft für dich, ob sie dir gerade guttun. Nicht alles muss für jede Phase deines Nervensystems passen. Und wenn es dich überreizt, überfordert oder einfach nicht mehr nährt, dann entabonniere mich mit ganz viel Liebe. Damit tust du deinem System vielleicht einen größeren Gefallen, als du denkst. Ich werde immer die erste sein, die dir sagt: Dein Nervensystem geht vor. Immer.
Was ich heute über mich gelernt habe, ist einfach und stark zugleich: Ich war nie süchtig nach meinem Handy. Ich war süchtig nach Sicherheit. Nach Verbindung. Nach dem Gefühl, nicht allein zu sein. Und heute lerne ich etwas Neues: dass Stille mich nicht mehr verschlingt, sondern mich zurück zu mir führt. Nicht, weil ich „besser“ geworden bin, sondern weil ich meinem Nervensystem langsam beibringe:
Du bist sicher.
Auch, wenn niemand online ist.
Auch, wenn du in der Leere stehst.
Auch, wenn du einfach nur du bist, ohne Ablenkung.
Und vielleicht ist das die wahre Freiheit:
Nicht die Freiheit von Apps, sondern die Freiheit, sie bewusst zu wählen, statt sie unbewusst zu benutzen.