Die Erschöpfung, die nicht weg muss.
Es entspannt etwas tief in mir, wenn ich mir diesen Gedanken erlaube. Dass meine Erschöpfung kein Fehler ist, kein Problem, das schnell gelöst werden muss, sondern ein Teil meiner Geschichte. Ein Teil meiner Herkunft. Und vielleicht ein Teil meiner Identität, jedenfalls für jetzt.
Meine Erschöpfung hat nicht bei mir begonnen. Ich trage ein transgenerationales Muster, das sich wie ein roter Faden durch die Frauenlinie zieht. Ich kenne meine Oma nur müde, ausgebrannt, innerlich abgeschnitten und gleichzeitig alles im Außen funktionierend. Sie starb früh an Alzheimer, und ich habe schon immer gespürt, dass das nicht „einfach Alter“ war. Heute weiß ich, wie sehr jahrzehntelanger Stress, Überlebensmodus und emotionale Einsamkeit ein Nervensystem prägen. Xanax war ihr treuester Begleiter. Und das erklärt so viel.
Auch meine Mutter habe ich zwischen „high functional freeze“ und völligen Crashs erlebt. Eine Mutter, die erschöpft ist, hat wenig Kapazität für emotionale Begleitung. Selbst wenn der Haushalt perfekt ist, die Kleidung sorgfältig gefaltet bereitliegt und sich im Außen alles geordnet anfühlt. Für Gefühle war oft kein Raum. Für Co-Regulation erst recht nicht.
Ich bin in dieser hochfunktionalen, aber innerlich eingefrorenen Atmosphäre aufgewachsen. Für ein Baby ist das zu viel. Also entwickelt ein Baby und ein Kind Überlebensstrategien: funktionieren, anpassen, nicht zur Last fallen, alles richtig machen, andere in den Vordergrund stellen. Und irgendwann fragt man sich: Warum bin ich so erschöpft?
Wie könnte ich es nicht sein?
2016 hat mein Körper den Stecker gezogen. Ein wunderschöner, aber radikaler Burnout nach einer Legionellen-Infektion auf meiner Hochzeitsreise. Seitdem gehe ich diesen Weg des Verstehens und Fühlens meiner transgenerationalen Erschöpfung. Und ehrlich gesagt, erst in den letzten Jahren beginnt sich die Tiefe dieser Muster zu zeigen. Die epigenetische Prägung. Die Nervensystemprogrammierung. Die tiefe Müdigkeit, die in meinen Zellen sitzt.
Lange habe ich gegen diese Erschöpfung angekämpft. Ich wollte sie weghaben, transformieren, überwinden. Doch erst als ich aufgehört habe zu kämpfen, ist etwas Neues entstanden. Wenn ich sie nicht ausschließe, sondern inkludiere, passiert etwas Unerwartetes: Auf einmal brauche ich weniger Schlaf. Ich fühle mehr Energie. Meine Emotionen dürfen fließen. Ich vertraue meinem Leben tiefer. Mein Körper öffnet sich, nicht trotz der Erschöpfung, sondern mit ihr.
Vielleicht wird meine Erschöpfung immer ein Teil meiner Geschichte bleiben. Und ich finde das nicht schlimm. Ich habe einen Raum für sie geschaffen. Mit vielen klaren Nein’s, die mein Nervensystem schützen. Und vielen Ja’s, die wirklich aus meinem Herzen kommen. Dadurch wächst meine Kapazität – langsam, organisch, sicher.
Ich bin die Erste in meiner Familie, die diesen Kreis bewusst durchbricht. Nicht perfekt. Nicht plötzlich. Sondern Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Auf eine sanfte, weibliche, verkörperte Art.
Und vielleicht ist genau das die Wahrheit, die so viele Frauen fühlen:
Erschöpfung muss nicht weg, um zu heilen.
Heilung geschieht, wenn wir sie nicht länger bekämpfen.